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Impressionen

Die Koloniestraße 10 – damals und heute

Koloniestraße 10 – eine Dokumentation

Teil 2

alte Baupläne des Vorderhauses der Koloniestraße 10

Dies ist der zweite Teil unserer Dokumentation über die Koloniestraße.
Einleitende Sätze darüber warum, wie und wann diese Dokumentation entstanden ist und was die Themen der kommenden Artikel sein werden, findet ihr im ersten Teil „Die Geschichte der Koloniestraße“, in dem wir die Historie der Koloniestraße und Umgebung von Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1945 betrachten.

Im folgenden Artikel wollen wir einen kleinen Einblick in die Vergangenheit und Gegenwart der Koloniestraße Nr. 10 geben. Wie sah es hier aus? Wer lebte und arbeitete hier? Wie entwickelte sich die Bewohner*innenschaft, die Gewerke und die Nutzung der Nummer 10 über die Jahrzehnte bis heute? Und was macht diesen Hof besonders?

Wir beginnen wieder mit ein paar Fakten:

Die Koloniestraße 10 liegt in Bezirk Mitte im Ortsteil Gesundbrunnen. Bei dem um 1860 erbauten Gebäudekomplex im Innenhof handelt es sich um einen nahezu original erhaltenen Fuhrhof, wie damals im Wedding üblich. Das Vorderhaus wurde 1884 erbaut. Fortlaufend im Text beziehen wir uns immer wieder auf die Erläuterung und die Vorstudie zur Denkmalwürdigkeit von Fr. Margrit Kühl (Dipl.Ing.Arch. – u.a. Denkmalgutachten Flughafen Berlin-Tegel 2012/13).

Wie bereits im ersten Teil genauer beschrieben, waren eben solche Furhhöfe, wie der der Koloniestraße 10 damals keine Seltenheit und gehörten zur nötigen Infrastruktur Berlins. Pferdekutschen waren zur damaligen Zeit ein gängiges Transportmittel für Mensch und Ware und gelten als Vorläufer des heutiges ÖPNV. Um die Einwohner*innen Berlins zu versorgen (der Wedding war damals noch nicht eingemeindet), wurde entlang der Panke Obst und Gemüse angebaut und um dieses in die Stadt zu transportieren, gab es allerhand Fuhrhofe mit Pferdeställen, Kutschen, Stellmachereien, Sattlereien, Schmieden usw.. In den roten Ziegelstein-Remisen wohnten die Arbeiter*innen in einfachen Wohnungen.

Auch heute ist die damalige Nutzung noch ablesbar, wenn man den langen und grünen Parallelhof der Koloniestraße Nr. 10 besucht. „Der ehemalige Pferde-Fuhrbetrieb mit einem Mehrfamilienwohnhaus an der Koloniestraße und den entsprechenden Werkstätten, einer ehemaligen Stellmacherei und Garagen für die Wagen ist als solcher noch deutlich zu erkennen. In der Koloniestraße 10 werden die Remisen, Garagen und Werkstätten als Ateliers, Tanzstudios und Wohneinheiten genutzt und damit bis heute erhalten.“ (Margrit Kühl)
Selbst die Raumaufteilung der Wohn- und Gewerberäume ist auf dem gesamten Gelände nahezu unverändert.

Die erste Erwähnung der Koloniestraße 10 findet sich bereits 1867 im „Berliner Stadt und Gemeindekalender und städtisches Jahrbuch“. Im Abschnitt „Nachweis sämtlicher Gemeindebeamten und Schiedsmänner“ wird der Schiedsmann Hr. Kanzius für den Bezirk 203 und 204 angeführt. Von Beruf war er Fabrikant und wohnhaft in der Koloniestraße 10 (Bezirk 203) .

Schiedsmann Kanzius – aus dem Berliner Stadt und Gemeindekalender und städtisches Jahrbuch 1867

Die Aufgabe eines Schiedsmannes war es kleinere und weniger bedeutsame bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zu schlichten, um vor dem Gang zu den ordentlichen Gerichten einen Sühneversuch zwischen den streitenden Parteien zu unternehmen.
Weitere Einträge zu Eigentümer*innen, Bewohner*innen und Gewerken der Koloniestraße 10 lassen sich in diversen Digitalisaten der „Berliner Adressbücher“ der zentralen Landesbibliothek finden. So ist verzeichnet, dass 1880 der Fuhrherr A. Springer der Eigentümer des Ensembles war und seinen Fuhrhof hier betrieb. Mit ihm auf dem Hof ansässig waren u.a. der Former R. Steinberg und der Handelsmann F. Bugge. Letzterer hatte neben seinem Wohnsitz auch eine Strauchbesenhandlung in der Koloniestraße 10.

Die Remisen des Hofes waren schon immer eine Mischung aus Wohn- und Gewerbeflächen. Während sich in dem oberen Stockwerk die Wohnräume befanden, waren im Erdgeschoss Gewerke und Stallungen ansässig. In den gegenüberliegenden Garagen und Werkstätten befanden sich wechselnde Kleingewerbe. Die Recherche zeigt, dass über die Jahre unterschiedlichste Handwerksbetriebe in der Koloniestraße 10 beheimatet waren. Einige dieser Gewerke schlossen sich eng an den eigentlichen Zweck des Fuhrhofes an. So fand man neben dem eigentlichen Fuhrbetrieb (inklusive Fuhrherr und Droschkenkutscher) auch Sattler, Stellmacher, Schmiedemeister und den mittlerweile ausgestorbenen Beruf des Formers. Former stellten Gussformen her, welche zum Gießen von Werkstücken aus Stahl, Eisen und anderen Metallen benötigt wurden, wie sie z.B. auch für den Bau, Erhalt und Instandsetzung von Droschkenkutschen essenziell waren. Neben den Droschken halfen auch Pferdeomnibusse und Pferdestraßenbahnen den öffentlichen Berliner Nahverkehr zu bewerkstelligen. Trotz erster Motordroschken, elektrischer Straßenbahnen und der 1902 in Betrieb genommenen ersten Berliner U-Bahnlinie, prägten von Pferden gezogene Fortbewegungsmittel das Bild der Berliner Straßen noch bis in die 1920er Jahre.

Auch in der Koloniestraße 10 veränderte sich das Bild des einstigen Droschenkutscherhofes zu einem moderneren. Die Pferdedroschke wurde bald durch die Motordroschke ersetzt und Pferdebahnen- und Omnibusse, fahren nun elektrisch oder mit Hilfe eines Verbrennungsmotors. So kamen während der nächsten Jahrzehnte auch andere, zum einen traditionelle, zum anderen modernere Gewerke in die Koloniestraße 10.
Neben dem alten Droschkenkutscher, wohnte nun auch ein Straßenbahnschaffner und ein Chauffeur hier. Andere ansässige Gewerke waren eine Gärtnerei, Werkzeugmacher, Schmiedemeister, Steinhauer, Schlosser, Elektriker und viele mehr. Die Koloniestraße 10 ging also in ihrem Nutzen mit der Zeit und war somit immer schon ein wichtiger Teil des sozialen Gefüges des Bezirks und der Stadt- und Infrastruktur.

Tatsächlich ist der Gebäudekomplex Koloniestraße 10 so konzipiert, dass es nahezu prädestiniert für Kleingewerbe unterschiedlichster Art erscheint. Kleine Räume, alle mit Zugang zum Hof, viel Platz und ausreichend Licht. Eine optimale Ausgangssituation für Kleingewerbe mit Einzelfunktion, welche in der Gemeinschaft und Funktionalität zum Anlaufpunkt vieler Menschen im Bezirk geworden sind. Räume auf so unterschiedliche Art nutzen zu können, dass sie jederzeit einen absolut anderen Zweck als noch den des Vorgängers erfüllen können ist ein Zeichen vergangener Architektur und Gebäudeplanung und gleichermaßen eine absolut beispielhafte und zukunftsweisende Methode Gebäude zu planen und zu gestalten, um sie für viele verschiedene Menschen nutzbar zu machen.

gezeichnete Pläne der Remisen im Hinterhof

Den rote Faden der Nutzungsmöglichkeiten des Gebäudeensembles von Erbauung bis in die Gegenwart bemerkt auch Wolf Borwin Wendlandt (Architekt und ehem. Denkmalpfleger beim Landesdenkmalamt) bei einer gemeinsamen Begehung des Hofes. „Die Unterschiedliche Benutzung führt zu unterschiedlichen Nutzungscharakterausbildungen. Die Ablesbarkeit der Nutzung ist nahezu entsprechend der historischen. Es gab hier vor Ort garantiert alles, um diesen Hof passend zum jeweiligen Stand der Technik am Leben erhalten zu können.“, heißt es im Protokoll dieser Begehung. Weiter bemerkt Hr. Wendlandt: „Es ist vom besonderen Wert die überkommene Hofanlage mit heutiger privater Nutzung und deren Möglichkeiten zu fördern. Aus beschriebenen Gründen hat das Gebäudeensemble seinen Wert für die ganze Region; nicht nur weil es zu diesem Hof gehört.“

Die Diversität der Nutzung der Koloniestraße 10 zeigt sich bis heute. Unterschiedlichste Gewerke fanden hier ihr zu Hause. In die ehemalige Schlosserei zog eine Tanzschule ein und blieb 18 Jahre ein fester Bestandteil des Hofes. Auch die überregional bekannte Traditionswerkstatt „Kühler Herrmann“ war über viele Jahrzehnte auf dem Hof beheimatet. Außerdem gab es Tischlereien, KFZ Gewerke aller Art, eine Galerie, Ateliers und Werkstätten für verschiedene Künstler*innen, wie Bildhauer*innen, Maler*innen, Karikaturist*innen, bildende Künstler*innen und viele mehr. Aus uns nicht nachvollziehbaren Gründen wurden alle Gewerbemietverträge ab 2017 gekündigt und stehen bis heute (2021) zu großen Teilen leer.

Die Mieter*innengemeinschaft Kolonie10 und viele solidarische Menschen und Initiativen organisieren regelmäßig Veranstaltungen für die Nachbarschaft, den Kiez und darüber hinaus für interessierte Menschen der ganzen Stadt. Hof-Flohmärkte, Workshops, Konzerte, Hof-Kino, Vorträge und Feste werden von Menschen jedes Alters gern besucht und beleben den Hof auf eine individuelle Art und Weise.

Um dem sozialen, ökologischen und gemeinschaftlichen Interesse der Mieter*innengemeinschaft einen noch höheren Stellenwert zu geben und mehr Menschen ansprechen, beraten und helfen zu können, haben die Mieter*innen im Oktober 2020 den Verein „Kulturhof Koloniestraße 10“ gegründet. Dieser Verein tritt für die Idee einer offenen Stadt ein, in der Ausgrenzung und Abschottung kein Platz haben. Auch ökologische Aspekte, wie Klima-, Natur- und Artenschutz im alltäglichen Leben, sowie beim Thema Bau, Modernisierung und Bepflanzung haben hohe Priorität in der Arbeit des Vereins.

Da die Bewohner*innen der Kolonie10 den Hof weiterhin erhalten und beleben möchten, haben sie eine Petition gestartet mit dem Ziel den Hof, mit Hilfe einer Genossenschaft selbst zu kaufen und ihn so der Spekulation und dem Immobilienmarkt zu entziehen. Klicken Sie HIER, um die Petition zu unterschreiben und die Mieter*innengemeinschaft zu unterstützen.

Weil Wohnraum keine Ware ist und Orte wie dieser ein Stadtbild prägen und Begegnungsstätten für viele Menschen sind.

Foto von 2018

Im dritten Teil unserer Dokumentationsreihe wird es um die sozialen und kulturellen Aspekte in der Koloniestraße 10 gehen. Wir betrachten u.a. soziologische Theorien zu offenen Stadtstrukturen und nehmen dabei Bezug auf ein wunderbares Feature von Pia Rauschenberger über die Frage „Wie wollen wir in Zukunft leben?“, für welches sie uns 2019 immer wieder besucht und begleitet hat.